TEXTE ÜBER FLÜSSE

EUPHRAT UND TIGRIS

Hat Wasser ein Gedächtnis? Euphrat und Tigris hätten wohl viel zu erzählen, begonnen mit ihrem mythologischen Ursprung: Im babylonischen Schöpfungsepos besiegt der Gott Marduk die Urmutter Tiamat, Verköperung des Meeres. Aus ihren Augen sollen Tigris und Euphrat entstanden sein. Die beiden Ströme, die im türkischen und irakischen Bergland entspringen und auf ihrem Weg zum Persischen Golf Syrien und den Irak durchqueren, sind die Lebensadern Mesopotamiens.

Zwischen den vergangenen Hochkulturen der Assyrer, Sumerer und Babylonier und der heutigen Situation im Nahen Osten liegen Jahrtausende Kultur- und Menscheitsgeschichte – eng mit den Flüssen verbunden, denn erst Bewässerungssysteme ermöglichten Sesshaftigkeit und Staatengründungen in trockenen Gegenden und legten das Fundament für die »Wiege der Zivilisation«. Heute geben sinkende Wasserstände versunkene Ruiinen wieder frei. Die Ressource Wasser steht im Mittelpunkt regionaler Auseinandersetzungen und Verhandlungen. Im Jahr 2018 wurde die neolithische Felsenstadt Hasankeyf für ein Staudammprojekt im Tigris überflutet, wodurch viele Menschen umgesiedelt wurden.

In Elif Shafaks Roman »Am Himmel die Flüsse« (2024) erwacht die uralte Stadt wieder zum Leben. Verschiedene Zeitebenen, die sich entlang der Reise eines Wassertropfens verflechten, reichen vom alten Assyrien bis in die Gegenwart. Schichsale und Menschen sind über geschichtsträchtige Gegenstände und magische Orte miteinander verbunden – darunter das Epos Gilgamesch, die archäologische Stätte Ninive und ein Kanun, dessen Klänge uns auch heute noch verzaubern.

DER POETISCHE FLUSS ISSA

»Tal der Issa« lautet der Titel eines Romans des polnischen Literaturnobelpreisträgers Czesław Miłosz. Doch auf der Suche nach dem realen Fluss »Issa« hüllt dieser sich in Nebel. Vielleicht nicht zufällig – »Issa« enthält eine metaphysische und metaphorische Bedeutungsebene. Am wahrscheinlichsten war der Fluss Niewiaz (oder Niewiaża) an der alten Grenze zwischen Polen und Litauen – Miłosz‘ Kindheitsheimat – Vorbild für das poetische Flusstal mit seiner verzauberten Landschaft, in der dem Autor zufolge mehr Teufel wohnen als anderswo und die Übergänge zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt fließend scheinen.

So könnte der Fluss Issa symbolisch für alle möglichen anderen Flüsse auf der Erde stehen. Eines von Miłosz‘ literarischen Lebensthemen war denn auch das Schicksal des Einzelmenschen im Ringen um Harmonie mit dem Universum, stellvertretend für viele Schicksale, vielleicht sogar dem der Menschheit an sich. Der Fluss wird damit, getreu Heraklitis Diktum »Alles fließt / panta rhei«, zur Allegorie für den universellen Strom des Lebens. In den Worten des Schriftstellers und Miłosz-Interpreten Artur Becker: »Als ob in diesem Mutterfluss alle Flüsse der Welt, gar der Fluss der Geschichte, der unaufhörlich fließt, enthalten wären.«

GANGES

Die Flussgöttin Ganga gilt als Urbild und Mutter aller indischen Flüsse, Symbol für Reinheit, Gnade und spirituelle Kraft. Ihr mythologischer Ursprung führt zum  Weisen Bhagiratha, dessen Buße Ganga dazu bewegte, als Fluss auf die Erde zu kommen, um Sünden zu reinigen und Seelen zu erlösen. Der Quellort am Gangotri-Gletscher im Himalaya ist ein bedeutender Pilgerort, an dem Gläubige die Nähe zum Göttlichen suchen. Ein Bad im Ganges verspricht spirituelle Erneuerung und Befreiung von Sünden, denn Ganga gilt als göttliche Mutter, deren Wasser nicht nur reinigt, sondern auch den Kreislauf von Geburt und Tod durchbrechen kann. Viele Gläubige wünschen sich, in Varanasi zu sterben oder ihre Asche dort dem Fluss zu übergeben, da dies als sicherer Weg zur Erlösung (Moksha) gilt. Hier verschmelzen Leben und Tod, Alltag und Ritual, das Wasser des Ganges wird zum Medium der Transzendenz.

Doch die spirituelle Kraft des Ganges steht im Kontrast zur ökologischen Realität: Massive Verschmutzung durch Abwässer und Umweltzerstörung belasten das Wasser. Mit 2.525 km Länge ist der Ganges einer der wichtigsten Flüsse Asiens und durchquert Indien und Bangladesch. Sein Einzugsgebiet ist das bevölkerungsreichste der Welt: Über 400 Millionen Menschen leben an seinen Ufern. In manchen Abschnitten gilt der lebensspendende Strom biologisch als tot. Die Himalaya-Gletscher speisen den Ganges zwar weiterhin, doch auch sie schwinden durch den Klimawandel – mit Folgen für die Trinkwasserversorgung im dicht besiedelten Gangesdelta. Seit 2017 genießt der Ganges Personenrechte, um seinen Schutz zu stärken. So fordert das Bild der reinen Göttin heute eine Ergänzung: Neben der spirituellen Verehrung braucht es ein Bewusstsein für die ökologische Verletzlichkeit dieses heiligen Flusses.

CONGO RIVER

Der Congo River, Afrikas zweitlängster Fluss, erstreckt sich über 4.374 Kilometer vom Quellfluss Lualaba bis zu seiner Mündung im gewaltigen Delta am Atlantik. Nach dem Amazonas führt er weltweit das meiste Wasser. Das fruchtbare Congobecken versorgt 77 Millionen Menschen mit Süßwasser und beherbergt eine außergewöhnliche Artenvielfalt. In der Spiritualität der indigenen BaKongo gilt tiefes Waser als Übergangszone zwischen Leben und Tod, zwischen sichtbarer und geistiger Welt. Mit Tiefen bis zu 200 Metern birgt der Fluss zahlreiche Geheimnisse – darunter das legendäre Wesen Mokele-Mbembe, von dem Augenzeugen seit dem 18. Jahrundert berichten und das dinosaurierähnlich in den Uferwäldern leben soll.

Das Kongobecken entwickelte sich früh zu einer kulturell und sprachlilch vielfältigen Region. Europäische Kolonialmächte nutzten den Fluss später als Handelsroute, wodurch er Zeuge von Gewalt, Sklaverei und Ausbeutung wurde. Bis heute besteht ein dramatischer Widerspruch zwischen dem Rohstoffreichtum der DR Kongo und der lokalen Armut sowie Umweltzerstörung: Beim Abbau von Kobalt und seltenen Erden arbeiten Erwachsene und Kinder unter lebensgefährlichen Bedingungen, während giftige Abfälle aus den Minen die Flusssysteme verschmutzen. In Kinshasa verwandeln kreative Kollektive wie KinAct und zahlreiche Musikgruppen Abfall in beeindruckende Kostüme, Skulpturen und Performances. Aus alltäglichen Gegenständen wie Dosen, Flip-Flops und Kabeln entstehen bei Festivals und Straßenauftritten fantasievolle Masken und Outfits, die traditionelle Zeremonien aufgreifen und gleichzeitig einen künstlerischen Kommentar zum urbanen Leben darstellen.

PÁRAMOS

Die Páramos in den Anden Kolumbiens und seiner Nachbarländer sind einzigartige aquatische Ökosysteme: tropische Feuchtgebiete in luftiger Höhe von 3.500 bis 5.000 m, oberhalb der Baum- und unterhalb der Schneegrenze. Die Nebel absorbierende Vegetation und schwammartigen Böden dieser Hochmoore können Wasser speichern, filtern und dann langsam abgeben. So verwandeln sie Tröpfchen und Wolken in Quellen und Flüsse, die auch in regenarmen Zeiten nicht versiegen. Die Páramos sind wertvolles Naturerbe unseres Planeten – unersetzbare Wasserreservoirs, Hotspots der Artenvielfalt, natürliche Kohlenstoffsenke. Doch sie sind auch in Gefahr, etwa durch intensive Landwirtschaft, Bergbau und veränderte Niederschläge infolge des Klimawandels. Im Páramo der Guerrero in der Gemeinde Pacho liegt eine der vielen Quellen des Río Negro im kolumbianischen Verwaltungsgebiet Cundinamarca. Die Wassertropfen, die sich in den andinen Feuchtgebieten nach und nach zum Fluss vereinen, durchlaufen auf ihrer Reise eine kontinuierliche Transformation: Aus Nebel werden Rinnsale, Bäche, ein wachsender Strom. Der Río Negro durchquert Bergwälder, tropischen Regen- und Trockenwald, und kleine Orte wie Útica, die er regelmäßig überschwemmt. Er fließt durch verschiedene Höhenlagen, von Pacho (mehr als 2100 m) bis Puerto Salgar (175 m). Hier trifft der Río Negro nach etwa 218 Flusskilometern auf den Río Magdalena, der ihn mitnimmt zum Karibischen Meer. Un der Wasserkreislauf beginnt von vorn.

KATALONIEN, ZWISCHEN DÜRRE UND DELTA

Ist ein Fluss ohne Wasser noch ein Fluss? In Katalonien ist das keine akademische Frage. Nach 36 Monaten ohne Regen rief die Regierung im Jahr 2024 den Wassernotstand aus. Das Bild der Kirche Sant Romà de Sau, vor 60 Jahren durch den Riu Ter für einen Stausee geflutet und plötzlich wieder trockenen Fußes erreichbar, ging als Symbol für den Klimawandel durch die Presse.

Der gebirgige Nordosten Spaniens ist reich an Flüssen, die sich in Landschaft und Geschichte eingeschrieben haben. Die drei längsten – Segre, Ter und Llobregat – entspringen als kalte Quellbäche hoch in den Pyrenäen und fließen mit großem Gefälle ins Tiefland zum Mittelmeer. Im Mündungsdelta des Ebro in der katalanischen Provinz Tarragona leben Flamingos, im Delta des Llobregat bei Barceloa brüten mehr als 300 Zugvogelarten. Von der engen Verflechtung menschlichen Lebens mit Wasser zeugen Aquädukte noch aus der Römerzeit, Industriebauten des Modernisme wie die Colonia Güell am Llobregat, aber auch zahlreiche Staustufen zur Energiegewinnung. Für die Wasser- und Ökosysteme hat diese intensive Nutzung problematische Folgen. Ein Beispiel ist das Ebrodelta: Wertvolle Sedimente aus den Pyrenäen lagern sich unterwegs in den Stauseen ab und fehlen dort, wo der ansteigende Meeresspiegel an der Küste nagt. In Europa leidet Spanien schon jetzt am deutlichsten unter der Erderwärmung. Die Wasserkrise wirft Verteilungskonflikte und tiefgreifende Fragen nachhaltiger Umwelt- und Wirtschaftspolitik auf, die über kurz oder lang alle betreffen können.

SEJNANE

Das Wadi (Qued) Sejnane durchquert die hügelige Landschaft der Mogods im Norden Tunesiens. Es nimmt seinen Anfang auf der Anhöhe Djebel El Krab in etwa 550 m Höhe, nahe der Kleinstadt Sejnane, wird dann zum Lac Sejnane gestaut, fließt weiter zum Lac Ichkeul und mündet schließlich bei Bizerta ins Mittelmeer.

In Tunesien ist Wasser zwischen mediterran geprägtem Norden und aridem Süden sehr ungleich verteilt. Gefälle gibt es auch zwischen immer durstigen Städten wie Tunis und ärmeren ländlcihen Gegenden mit oft mangelhafter Trinkwasserversorgung. Umso kostbarer ist das vom Regen großzügig bedachte Wadi Sejnane für Menschen und nicht-menschliche Lebewesen. Das Biosphärenreservat rund um den Lac Ichkeul wurde 1996 von der UNESCO zum bedrohten Weltnaturerbe erklärt. Ebenso gilt das Marschland Garâa des Sejenane als besonders schützenswertes Feuchtgebiet. Beide Gebiete sind wichtige Rast- und Brutplätze für Tausende Wasservögel.

Das Flussbett des Sejnane hält noch einen weiteren Schatz bereit: Hier finden die Töpferinnen von Sejnane die Tonerde, aus der sie einzigartige Keramik schaffen. Ihre Kunst vereint alle Elemente: Die fein gesiebte, feuchte Erde muss erst an der Luft trocknen, bevor sie wieder mit Wasser vermischt, in einem aufwändigen Bearbeitungsprozess zu Geschirr und Skulpturen geformt und schließlich auf dem Feuer gebrannt wird. Diese traditionell von Frauen ausgeübte Kunst geht bis auf die Bronzezeit zurück und ist seit 2018 immatrielles Weltkulturerbe.

WILDER LECH – ZAHMER LECH

Seit 2019 ist das Augsburger Wassermanagement UNESCO-Welterbe. Das ausgeklügelte Netzwerk aus Kanälen, Pumpen und Wassertürmen versorgt seit dem 13. Jahrhundert die Stadt zuverlässig mit Trink- und Brauchwasser. Bauwerke wie die Wassertürme am Roten Tor oder das Kraftwerk am Hochablass bezugen diesen Wasser-Reichtum. Ein besonderer Schatz: der Siebentischwald, dessen Bäche aus Quellen mit Trinkwasserqualität wie dem Stempflebach gespeist werden.

Ohne seine vielen Kanäle hätte Augsburg ein anderes Gesicht. Die scheinbar selbstverständliche Verfügbarkeit von Wasser lässt jedoch manchmal vergessen, dass die Zähmung der Flüsse auch eine Kehrseite hat. Am Augsburger Augustusbrunenn lagert der Lech ikonisch als wilder alter Mann. Doch wild ist der Lech, der »Reißende«, nur noch in den Tiroler Alpen.

Ein Vermächtnis seines vormals unberechenbar mäanderenden Flussbettes ist die Lage der Augsburger Altstadt auf einem Hügel. Erst Deiche ermöglichten die Ausdehnung auf Gebiete, die der Lech früher regelmäßig überschwemmte.

Wie kaum ein anderer Fluss in Bayern ist der Lech domestiziert, Umweltaktivistinnen und -aktivisten sprechen von einem »Hybridgewässer«: Mehr als 30 Staustufen und Wehre unterbrechen nicht nur den natürlichen Verlauf seiner 256 Flusskilometer, sondern auch die Fischwanderung und den Transport von Sedimenten. Die charakterischen flachen Kiesbänke und ökologisch bedeutsamen Auwälder sind bedrohte Raritäten geworden. Mit dem Projekt »Licca Liber« soll der Lech wieder freier fließen – zumindest abschnittsweise könnte sich das Antlitz des Flusses und seiner Stadt erneut wandeln.

Illustrationen: Alex Bon